Bakterielle Infektion, Geschichte
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Angst vor Bakterien oder Umwelt?

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Es ist ein uralter Widerspruch: Bakterien oder Umwelt, Natur oder Erziehung, Genetik oder Epigenetik/Ernährung/Lebensstil? Wo fängt man an, wenn es um die Bekämpfung von Infektionskrankheiten geht? Krankheiten wie Tuberkulose konnten in den westlichen Ländern in den letzten 150 Jahren unter Kontrolle gebracht werden. Es gibt einen Zeitstrahl, der mit der Erkennung und Identifizierung eines Bakteriums beginnt, über die Verbesserung des Wohlbefindens und der Hygiene führt und schließlich mit der Bekämpfung, Ausrottung und Impfung endet. Die Frage ist: Gibt es jetzt noch einen Grund, Infektionskrankheiten zu bekämpfen? Aber auch: Welche neuen Probleme sind entstanden?

Rückgang der Tuberkulose

Die meisten Verbraucher konsumieren heute keine Rohmilch mehr. Wir sind bakterienphobisch geworden, trinken pasteurisierte Milch und essen verarbeitete Produkte aus pasteurisierter Milch. Der Hauptgrund für die Umstellung auf Pasteurisierung war die (weitere) Eindämmung von Tuberkulose (TB) und anderen Infektionskrankheiten, bei denen Rohmilch eine Rolle spielte. Im Jahr 1882 entdeckte der deutsche Arzt Robert Koch (1843-1910) die Bakterien als Erreger der Krankheit. Ein weiterer Grund für die Pasteurisierung war eine längere Haltbarkeit, was in Zeiten unzureichender Kühlmöglichkeiten und langsamer Transportwege von Vorteil war. Wenn man jedoch die Rolle der Pasteurisierung (Erhitzung) bei der letztendlichen Reduzierung der TB untersucht, stellt sich heraus, dass der Rückgang der TB bereits Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzte, also lange bevor alle Milch pasteurisiert wurde und das Bakterium seinen Namen erhielt: das Tuberkelbakterium (Mycobacterium tuberculosis). Wichtige Verfechter der Bekämpfung der Keime, Bakterien oder Erreger waren Louis Pasteur (Frankreich) und Robert Koch (Deutschland).

Umwelt versus Bakterien

Ein interessanter Gegenpol zum Fokus auf den „Keim“ war der englische Arzt Thomas McKeown (1912–1988). McKeown lehnte das Verständnis von Bakterien nicht ab, aber er schätzte Bakterien auf eine andere Art und Weise. McKeown war Professor für soziale Aspekte der Medizin und somit ein Medizinhistoriker mit Kenntnissen über das England und Wales des 19. und 20. Jahrhunderts. Thomas McKeown stand eindeutig auf der Seite der „Umwelt“, wenn es um die Interpretation von Sterblichkeitsraten, Kindersterblichkeit, Altern usw. ging. Seine Theorie befasste sich insbesondere mit der Rolle der Sozialfürsorge und der steigenden finanziellen Kaufkraft, die seiner Meinung nach eine Rolle beim Rückgang des Problems der Infektionskrankheiten spielten. Tuberkulose war nur eine der möglichen Infektionskrankheiten, Kinder und Menschen konnten auch an Pocken, Typhus, Lungenentzündung, Scharlach, Cholera, Diphtherie, Polio, Meningitis, Keuchhusten oder Masern erkranken und/oder daran sterben. Es war die Zeit, in der Infektionskrankheiten die Lebenserwartung bestimmten, noch bevor Fleming sein Antibiotikum (Penicillin) entdeckt hatte. Vor allem im Sommer war die bakterielle Belastung hoch (Hitze) und es konnte zu anhaltendem Durchfall kommen, der zu einer Dehydrierung des Kindes führte. Eine der wichtigsten Entdeckungen ist natürlich ein Bakterium (und parallel dazu die Viren), das mit einer bestimmten Krankheit in Verbindung gebracht wird, das Werk von Pasteur und Koch. Ebenso wichtig ist die Erkenntnis, warum sich bestimmte Bakterien entwickeln können, die unter anderem dem französischen Physiologen und Zoologen Claude Bernard (1813–1878) zu verdanken ist. Bernards berühmtestes Zitat nach 40 Jahren Forschung lautet: „Der Keim ist nichts, die Umwelt ist alles.“ McKeown und Bernard verfolgen daher denselben Gedankengang: Wie kann die Umwelt einem Organismus Raum zum Wachsen geben? In Bezug auf die Krankheitsbekämpfung lauten die Fragen: Sollten wir uns darauf konzentrieren, Keime einzudämmen (Bekämpfung und Ausrottung), sollten wir die Übertragung von Organismus zu Organismus verhindern (Isolierung, Abschirmung) oder sollten wir uns darauf konzentrieren, die Umwelt gesund zu machen, in der ein Keim zwar weiterhin vorhanden sein kann, sich aber nicht mehr explosionsartig entwickeln kann?

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Abbildung 1. Rückgang der Zahl der Todesfälle pro 1.000.000 Kinder in Zehnjahreszeiträumen von 1850 bis 1970 (Scharlach (roodvonk), Keuchhusten (kinkhoest) und Masern (mazelen)). Dabei wurden Bakterien identifiziert, Medikamente, Antibiotika und Impfstoffe entwickelt (Aus: McKeown, 1979).

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Abbildung 2. Rückgang der Zahl der Todesfälle pro 1.000.000 Kinder in Zehnjahreszeiträumen von 1850 bis 1970 (Tuberkulose und Lungenentzündung (=longontsteking)). Dabei wurden Bakterien identifiziert und Medikamente und Impfstoffe entwickelt (Aus: McKeown, 1979).

McKeown (1979) zeigt in mehreren Publikationen, dass der Rückgang der Infektionskrankheiten bereits lange vor der Entwicklung von Antibiotika oder der Einführung von Impfungen eingesetzt hatte (siehe beide Abbildungen). Was er in England und Wales feststellte, gilt wahrscheinlich für die gesamte westliche Welt: Amerika und Europa. In den Niederlanden trat 1957 das nationale Impfprogramm gegen vier Krankheiten in Kraft, nämlich Diphtherie, Keuchhusten, Tetanus und Polio. McKeown führt den starken Rückgang der Sterblichkeit vor der Einführung von Impfungen und Medikamenten auf die schrittweise Veränderung unserer Lebensumgebung und damit auch der Umgebung der Bakterien zurück, die uns begleiteten. Dazu gehören bessere Wohnverhältnisse, Belüftung, persönliche Hygiene, die Versorgung mit gutem, zuverlässigem Trinkwasser, die Trennung von Abwasser und Trinkwasser sowie der Ausbau der Kanalisation in den Städten (Wray, 2015; McCleary, 1904; Lowe und McKeown, 1954). Pferde verschwanden nach und nach aus den Städten und wurden durch Autos ersetzt. Obwohl das Auto als großer Luftverschmutzer in den Innenstädten gilt, nahm die Belastung durch Fliegen und Pferdeäpfel enorm ab. In New York wurden die Straßen gepflastert, ein besseres System zur Sammlung und Entsorgung von Abfällen aus der Stadt entwickelt, Freiflächen (Parks) in der Stadt angelegt und die Wohnverhältnisse verbessert. All dies sind Maßnahmen, die die allgemeine Hygiene fördern. Dennoch bleibt das Risiko im Sommer aufgrund fehlender Kühlmöglichkeiten hoch. Es gibt große Unterschiede in der Sterblichkeit von Säuglingen aufgrund von Durchfallerkrankungen zwischen Sommer und Winter.

Unsichere Rohmilch

Auch die sogenannte Swill-Milch wurde bereits 1861 verboten (Obladen, 2014). Dabei handelte es sich um Milch, die hauptsächlich von kranken „Stadtkühen” gewonnen wurde, die statt mit Raufutter mit Brauereiabfällen gefüttert wurden. Die Kühe wurden in dunklen, schmutzigen Ställen gehalten und waren verdreckt und krank. Viele dieser Kühe dienten dazu, die in Städten lebenden Kinder mit (Roh-)Milch zu versorgen.

Kurz vor der Wende zum 20. Jahrhundert entstand das Bewusstsein, dass es mehrere Faktoren gab, die die öffentliche Gesundheit und die Säuglingssterblichkeit beeinflussten. Was die Versorgung von Säuglingen mit Milch betraf, gab es eindeutig zwei Möglichkeiten: entweder erhitzte oder rohe Milch. Befürworter der Pasteurisierung von Kuhmilch, darunter der amerikanische Philanthrop (und Geschäftsmann) Nathan Straus, hatten sich zum Ziel gesetzt, innerhalb weniger Jahre die Versorgung mit roher Milch in US-amerikanischen Städten zu beenden. Die gesamte Milch für Kleinkinder musste pasteurisiert oder sterilisiert werden (in einigen Städten 10 bis 30 Minuten lang bei 100 °C erhitzt). 1893 wurde in New York das erste Geschäft eröffnet, das ausschließlich erhitzte Milch für Säuglinge anbot, nach dem Vorbild der französischen „La Goutte de Lait”, die in mehreren französischen Städten sterilisierte Milch für Säuglinge anbot (McCleary, 1904). Im Jahr 1903 waren 4 % der Milch in New York pasteurisiert, 1918 fast die gesamte Milch (98 %), und in anderen Städten gab es ähnliche Entwicklungen (Brand, 1925). McCleary (1904) beschreibt jedoch, welche Maßnahmen parallel dazu von der Stadtverwaltung New Yorks ergriffen wurden. Neben der Verbesserung der städtischen Umwelt wurden Beratungen durch Nonnen oder Hygieneinspektoren (Vorläufer der Beratungsstellen) eingeführt und Kontrollen durchgeführt, um festzustellen, ob sich das Baby in Bezug auf sein Gewicht gut entwickelte. Dass die Säuglingssterblichkeit hoch war, liegt auf der Hand, da es vor allem unter den Ärmsten an Wissen und Verständnis mangelte. McCleary (1904) beschreibt, dass die Menschen Säuglinge genauso ernährten wie Erwachsene: hart gekochte Eier, Käse, Karotten, Bier und sogar Spirituosen. Die etwas besser Gebildeten gaben ihren Kindern eine Auswahl an Milchprodukten: Kuhmilch, ob erhitzt und angepasst oder nicht, Kondensmilch, gesüßte Milch oder natürlich Muttermilch. Für Paris gibt Obladen (2012) an, dass unter Säuglingen, die nicht mit Muttermilch ernährt wurden, eine Sterblichkeitsrate von 46 % zu verzeichnen war, verglichen mit nur 5 % unter gestillten Kindern. Selbst dann wurde das Stillen hoch bewertet.

Sichere Rohmilch

Obwohl Straus „behauptet“ (Obladen, 2014), dass seine Maßnahme, Säuglingen nur erhitzte Milch zu geben, die Säuglingssterblichkeit und die Infektionsrate mit Tuberkulose senkte, stimmen die Zahlen nicht damit überein. Tuberkulose betraf oft die schwächeren Mitglieder der Bevölkerung, die unter den unhygienischsten Bedingungen lebten und schlecht ernährt waren. Die städtischen Schadstoffe und die allmähliche Verbesserung der Hygiene sind ebenfalls Umweltfaktoren, die die Infektionsrate von Tuberkulose bestimmen, sogenannte Co-Faktoren. Straus war ein klarer Vertreter der „Keimtheorie”. Es wurden auch andere Wege als die Abtötung von Bakterien gesucht und gefunden. In Dänemark wurde 1879 die Copenhagen Milk Supply Company gegründet, die ein System zur Lieferung von roher statt erhitzter Milch für Säuglinge entwickelte, da sie den Mehrwert von roher gegenüber erhitzter Milch erkannte (Atkins, 2010). Dies umfasste die Anpassung der Bedingungen, die Art und Weise der Milchgewinnung, die Überwachung der Kuhgesundheit (TB), die Filterung und Kühlung der Milch sowie den versiegelten, gekühlten Transport in die Stadt. Solche Milchlieferungssysteme entstanden beispielsweise auch in der Umgebung der Stadt Hamburg (Deutschland). Der Schwerpunkt lag nicht auf der Abtötung von Bakterien, sondern auf der Aufrechterhaltung eines Gesundheits- und Hygienestatus der Kühe und Betriebe, um sichere Rohmilch zu liefern (Atkins, 2010). Dies ist ein Vorläufer der späteren, gesetzlich geregelten Vorzugsmilch (www.milch-und-mehr.de), der sogenannten Rohmilch der Klasse A. Bis in die 1960er Jahre gab es in einer Stadt wie Bremen mehr als 15 Milchviehbetriebe, die Vorzugsmilch lieferten und Rohmilch an Privathaushalte, Altenheime und Kindergärten lieferten. Die Kontrolle solcher Säuglingsmilchprogramme lag oft in den Händen von Medizinern, die die Hygiene (Kühe, Ställe, Menschen), die Kühlung und die bakteriologische Sicherheit überwachten.

Meaning of raw milk nowadays

Heute, mehr als ein Jahrhundert nach der Entdeckung der Bakterien, sehen wir uns mit einer weltweiten Zunahme von Asthma, Allergien, Heuschnupfen und vielen anderen „nicht übertragbaren Krankheiten“ konfrontiert, also Erkrankungen, die nicht durch Infektionen von einer kranken Person übertragen werden können. Wir bekommen sie durch Epigenetik, durch die Umwelt, durch unsere veränderten Lebensgewohnheiten. Hier kommt die kulturelle Vererbung ins Spiel, indem wir Verhaltensweisen, Essgewohnheiten und Lebensstile der westlichen Gesellschaft kopieren. Diese Epidemie hängt unter anderem mit der Nichtverfügbarkeit von Rohmilch für Kleinkinder und schwangere Mütter zusammen. Es wird immer deutlicher, dass wir Bakterien für eine gesunde Immunantwort brauchen, bei der der Körper nur auf fremde bakterielle und virale Eindringlinge reagiert, nicht auf unsere Nahrung. Rohe und roh fermentierte Produkte bieten einen Teil der Lösung, wie aus epidemiologischen und experimentellen Untersuchungen immer deutlicher wird (Loss et al., 2011; Braun-Fahrländer et al., 2010; Abbring et al., 2019).

Literatur

  • Abbring, S., Kusche, D., Roos, T. C., Diks, M. A., Hols, G., Garssen, J., Baars, T., & van Esch, B. C. (2019). Milk processing increases the allergenicity of cow’s milk—Preclinical evidence supported by a human proof‐of‐concept provocation pilot. Clinical & Experimental Allergy, 49(7), 1013-1025.
  • Atkins, PJ (2010) Liquid Materialities: a History of Milk, Science and the Law Farnham: Ashgate, 334pp.
  • Brand, H. (1925). Kritische und experimentelle Studien zur Pasteurisierung der Milch:(Kuhmilch und Frauenmilch) (Doctoral dissertation, ETH Zurich).
  • Braun‐Fahrländer, C., & Von Mutius, E. (2011). Can farm milk consumption prevent allergic diseases?. Clinical & Experimental Allergy, 41(1), 29-35.
  • Loss, G., Apprich, S., Waser, M., Kneifel, W., Genuneit, J., Büchele, G., … & Gabriela Study Group. (2011). The protective effect of farm milk consumption on childhood asthma and atopy: the GABRIELA study. Journal of Allergy and Clinical Immunology, 128(4), 766-773.
  • Lowe, C. R., & McKeown, T. (1954). Incidence of infectious disease in the first three years of life, related to social circumstances. British Journal of Preventive & Social Medicine, 8(1), 24.
  • McCleary, G. F. (1904). The Infants‘ milk depot: its history and function. Epidemiology & Infection, 4(3), 329-368.
  • McKeown, T. (1979; 2014). The role of medicine: dream, mirage, or nemesis?. Princeton University Press.
  • Obladen, M. (2012). Bad milk, part 1: antique doctrines that impeded breastfeeding. Acta paediatrica, 101(11).
  • Obladen, M. (2014). From swill milk to certified milk: progress in cow’s milk quality in the 19th century. Annals of Nutrition and Metabolism, 64(1), 80-87.

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